Der Fall »Drachenlord«: Ein jahrelanges Martyrium in Deutschland – und niemand hält es auf

2/2

Der Deal des Gerichts hätte ihn ins Nichts gestürzt

Zu Prozessbeginn hatte das Gericht Winkler einen Deal angeboten, der nichts war als eine Farce. Er hätte eine Bewährungsstrafe bekommen, wenn er »seine Arbeit als Internet-Reizfigur ganz aufgibt.« Eine Täter-Opfer-Umkehr und eine groteske Verzerrung der Realität, denn die Arbeit von Winkler ist es, YouTube-Filme zu machen. Eine Internet-Reizfigur ist er, weil er gegen seinen oft flehend vorgetragenen Willen von Tausenden Menschenfeinden dazu gezwungen wurde. Winkler verdient sein Geld mit seinen Netzauftritten, er kann nichts anderes. Das aufzugeben, würde ihn ins Nichts stürzen, genau dorthin, wo die Haider ihn in ihrem Vernichtungswahn haben wollen. Aufhören würden die Qualen damit aber ohnehin nicht, mehrfach hatte Winkler über Monate auf einzelnen Plattformen pausiert, der Hassmob attackierte ihn beinahe unvermindert bitter weiter – um das Ende seiner Pausen zu provozieren.

Der vorgeschlagene Deal des Gerichts war ungefähr, als würde man einem Opfer häufiger Raubüberfälle vorschlagen, einfach nicht mehr zur Arbeit zu gehen, damit die Raubüberfälle aufhören. Winkler musste ablehnen, die Richterin verhöhnte ihn auch dafür (»Mir bleibt die Spucke weg«). Winkler lässt durchblicken, dass ihn seine Arbeit am Leben hält, und wer wollte das bezweifeln?

Der Journalist Lars Wienand hat den Prozess intensiv vor Ort verfolgt und einen der nicht besonders vielen klugen Artikel zum »Drachenlord« geschrieben. Er verfügt auch über ein fast wörtliches Protokoll des Gerichtstermins. Es ist ein erschütterndes Dokument, weil es das erbärmliche Versagen von Staatsanwältin und Richterin so greifbar macht. Wienand schreibt: »Die Staatsanwältin hält Winkler vor, Schuld immer nur bei anderen zu suchen, obwohl er auch beteiligt sei. Winkler ist Opfer und Täter, das ist oft zu hören im Prozess« (unter anderem auch von der Richterin).

Der Hassmob arbeitet an einer Täter-Opfer-Umkehr

Winkler ist nicht Opfer und Täter. Winkler ist ein Opfer, das unsagbar gequält wurde und dem nichts blieb, als sich zu wehren. Staatsanwältin und Richterin haben damit genau die Täter-Opfer-Umkehr staatlich festgezurrt, an der der Hassmob seit vielen Jahren absichtsvoll arbeitet. Mit aufwendigsten Mitteln. Es kursieren viele Fälschungen von Videos, wo Winkler Worte in den Mund gelegt werden, die er so nie gesagt hat. Ebenso haben sich die Haider zur Aufgabe gemacht, ihn immer wieder zu reizen, um ihm bestimmte Sätze zu entlocken, die aus dem Kontext gerissen teilweise monströs wirken. Auf dieser Basis behaupten sie, Winkler sei Holocaust-Leugner, Rassist, Frauenfeind und so weiter und so fort.

Über Jahre haben die Haider so dafür gesorgt, dass die Ergebnisse einer oberflächlichen Recherche Winkler als schlimme Person erscheinen lassen. Eine Person, bei der man eben zögert, zu helfen, und genau das ist das Ziel. Zur Hassstrategie des Mobs gehört die Vereinzelung Winklers, der soziale Preis, ihn zu unterstützen, wird hochgetrieben, man wird dann leicht selbst zum Ziel der Haider.

Wenn man dem »Drachenlord« öffentlich zur Seite springt, tauchen verlässlich Leute auf, die vermeintlich freundlich fragen, ob man tatsächlich einen »verurteilten Gewalttäter, Rassisten und Holocaust-Leugner« verteidigen möchte. Inklusive vorgeblicher Beweise, oft kommen dort die manipulierten und aus dem Zusammenhang gerissenen Clips zum Einsatz. Die Haider nutzen aus, dass es in vielen Teilen der Gesellschaft eine höhere Sensibilität für diskriminierende Aussagen gibt – und dass sich Winkler aufgrund seiner Verfasstheit leichter provozieren und zu Unüberlegtheiten hinreißen lässt. Für Außenstehende mögen seine Reaktionen auf das organisierte Mobbing höchst ungeschickt wirken, aber das spielt weder für die Bewertung der Lage eine Rolle, noch rechtfertigt es in irgendeiner Weise das Tun der Täter.

Natürlich hat sich Winkler in den Jahren der Online-Offline-Belagerung durch den Hassmob verändert, oberflächlich betrachtet nicht nur zum Positiven, wer hätte das nicht? Er ist reizbarer geworden, ist desillusioniert, was den staatlichen Schutz für Psyche, Leib und Leben angeht. Er hat für sich Schutzmechanismen gefunden, um das aufgezwungene Martyrium überhaupt aushalten zu können. Und natürlich hat sich Winkler streng genommen falsch verhalten – aber aus einer tiefen, unentrinnbaren Verzweiflung und erzwungenen Alternativlosigkeit heraus.

Rainer Winkler, der »Drachenlord«, kann nichts dafür, dass Tausende ihn mit größter Freude seit Jahren quälen, rund um die Uhr. Die schlichte Wahrheit ist, dass Winkler einfach nicht immer in der Lage ist, die ihm gestellten Fallen zu erkennen. Auf diese Weise sollen Öffentlichkeit und auch die Mitläufer-Haider getäuscht werden: Es ginge ja nur gegen jemanden, der selbst bösartig sei. Psychologisch handelt es sich um die gleiche Selbstentlastung, mit der sich Henker in Diktaturen einreden, es treffe ja nicht die Falschen.

Die Täter müssen massenhaft zur Rechenschaft gezogen werden

Und leider finden sich in den Medienbeiträgen über Winkler fast immer Echos dieser Strategie der Haider: Dass Winkler ja auch irgendwie Täter sei. Dass irgendwie beide Seiten eine Verantwortung trügen. Wer so etwas schreibt, fällt auf eine ausgefeilte Mobbing-Strategie herein. Im SPIEGEL hat eine Cyberpsychologin fabuliert, es handele sich um einen komplexen Konflikt. Nichts könnte weiter von der Wahrheit entfernt sein. Es handelt sich um einen sehr simplen, aber eben gruselig bösen Konflikt: Viele Tausend Menschen quälen einen erkennbar einfachen, dicken Mann.

Es ist die bitterste Schulhofisierung der deutschen Öffentlichkeit, »Herr der Fliegen« meets Social Media. Es ist, als würde der kleine Willi von den Klassenbullys in den Mülleimer gesteckt und der Schulleiter bestraft Willi für seinen Missbrauch des Mülleimers. Und, weil er sich gewehrt hat. Das und nichts anderes ist der Kern, alles andere ist absurde Fehlinterpretation, von den Haidern provoziert.

Dass Winkler selbst nachweislich zurückschlug, muss als Notwehr eines Mannes betrachtet werden, dessen Martyrium über inzwischen fast zehn Jahre von nichts und niemandem aufgehalten werden konnte. Der selbst von großen Medien verspottet wird. Der das Opfer einer kollektiven Hassfolklore ist und das Spottopfer einer ganzen Generation.

Rainer Winkler ist die erste Person in Deutschland, die auf diese Weise mithilfe des Netzes gezielt vernichtet werden soll. Er wird nicht die letzte sein, wenn die Gesellschaft nicht herausfindet, wie Cybermobbing wirkungsvoll eingedämmt werden kann und wenn die Protagonisten nicht massenhaft zur Rechenschaft gezogen werden. Zum Beispiel für die Bildung eines organisierten Online-Hassmobs. Wenn Winkler tatsächlich jahrelang ins Gefängnis gehen wird oder wenn er sich irgendwann das Leben nehmen sollte – dann gibt es konkrete Schuldige.

Nicht nur den Hassmob samt seinen Zuschauern und Schaulustigen, sondern eben auch diejenigen, die sich auf verschiedene Arten an seinem Martyrium beteiligt haben. Oder es zuließen. Oder es für nicht so schlimm hielten. Oder irgendwie unterhaltsam fanden.

Inzwischen ist die Staatsanwältin in Berufung gegangen – ihr ist die Strafe für Rainer Winkler nicht hart genug. Was ist sie nur für ein Mensch, muss man sich zwangsläufig fragen. Meine Antwort wäre: Die Staatsanwältin und die Richterin sind Menschen, die ihre Menschlichkeit hinter einer toxischen Mischung aus Unwissen, Unwillen und Prinzipienreiterei versteckt haben. Sie sind Teil des Problems.

/r/de Thread Parent Link - spiegel.de