Wagt die Union das Projekt Kanzler-Sturz?

Friedrich Merz ist eigentlich in die Berge gefahren, um sich ein wenig zu erholen. Nun aber hat der CDU-Vorsitzende und Unionsfraktionschef dieser Tage eine Entscheidung zu fällen, bei er es schon wenige Monate nach der Bundestagswahl um eine grundsätzliche Frage geht – und davon abgeleitet möglicherweise um die Zukunft der Regierung von Kanzler Olaf Scholz.

Auf dem Papier erscheint diese Frage eher technischer Natur: Sollen die Bundestagsabgeordneten von CDU und CSU in der kommenden Woche im Plenum einen Antrag einbringen, der die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine fordert?

Die Debatte über Deutschlands Beitrag bei der Rüstung der ukrainischen Armee hat zuletzt auch deshalb an Fahrt aufgenommen, weil selbst Vertreter der Koalitionsparteien zunehmend ihre Unzufriedenheit über den Kurs des Kanzlers äußerten. Gleichzeitig scheint angesichts der neuen Offensive Russlands der Bedarf der Ukraine immer dringlicher.

Unionsfraktionsvize Johann Wadephul, zuständig für Außen- und Verteidigungspolitik, machte am Dienstag den Vorstoß der Opposition via Twitter öffentlich: »Wir wollen die Bundesregierung in dieser Krise unterstützen«, schrieb er. Sollte Scholz sich allerdings weiterhin gegen die Lieferung schwerer Waffen stellen, so schrieb der CDU-Politiker sinngemäß weiter, müsse der Kanzler in der kommenden Woche mit einem entsprechenden Antrag der Unionsfraktion rechnen.

Nach dem Auftritt des SPD-Politikers vom Dienstagabend ist klar: Scholz bleibt vorerst bei seiner Haltung. Nun will man nochmals prüfen, ist aus der Unionsfraktion zu hören, was Deutschland tatsächlich geliefert hat und zu liefern bereit ist, dazu ist man auch im Gespräch mit der Rüstungsindustrie.

»In der Sache ist der Hinweis des Kanzlers anmaßend, die Ukrainer könnten mit den von ihnen nachgefragten Waffen nichts anfangen«, sagt der Erste Parlamentarische Geschäftsführer der Unionsfraktion, Thorsten Frei. Der CDU-Politiker fragt sich: »Glaubt man im Kanzleramt, dass die Ukraine uns nach nutzlosen Waffen fragt?« Für die Union sei »vor allem entscheidend, dass Deutschland seine Zurückhaltung bei den Waffenlieferungen aufgibt«, sagte Frei dem SPIEGEL. »Ein Antrag ist dabei eine unter mehreren denkbaren Möglichkeiten.«

Am Ende muss es Merz entscheiden Kaum einer rechnet in der Union jedenfalls mit Überraschungen bei der Prüfung der tatsächlichen deutschen Waffenlieferungen. Umso mehr dürfte in den kommenden Tagen noch diskutiert werden zwischen führenden Vertretern der Unionsparteien, auch mit den Fachpolitikern im Bundestag. Aber am Ende wird es die Entscheidung des Fraktionschefs sein.

Friedrich Merz hat Ende Februar in der Sondersitzung des Parlaments in seiner Entgegnung auf den Bundeskanzler angekündigt, dass die Unionsfraktion angesichts der von Scholz angekündigten Zeitenwende »nicht im Kleinen herummäkeln« werde und den grundsätzlichen Kurs mittragen werde.

Das war eine klare Absage an klassische Oppositionspolitik, stattdessen eine Ansage für staatspolitisch verantwortliches Handeln. Würde die Unionsfraktion nun ihren Antrag einbringen, wäre das ein Bruch mit dem bisherigen Kurs.

Aber es wäre eben noch mehr: eine Art Signal zum Kanzler-Sturz.

Denn angesichts der Kritik an Scholz aus den eigenen Reihen wäre nicht ausgeschlossen, dass der Antrag sogar eine Mehrheit im Bundestag erreichen könnte – und das in einer Frage, die ausdrücklich den Kurs des Regierungschefs betrifft. Das würde übrigens genauso gelten, falls die Ampel-Fraktionsführungen den Antrag nicht zur Abstimmung im Plenum freigäben und es darüber zu einem Votum über die Geschäftsordnung käme, das dann im Sinne der Union ausfiele.

Scholz wäre in diesem Fall so massiv beschädigt, dass er eigentlich die Vertrauensfrage stellen, sich also seiner Mehrheit im Bundestag versichern müsste. Eine handfeste Staatskrise – und das mitten in der größten außenpolitischen Krise seit Jahrzehnten? All diese Konsequenzen muss Merz abwägen.

Auf der anderen Seite setzt sich in der Unionsfraktion der Eindruck durch, dass Kanzler Scholz sich in dieser außergewöhnlichen Lage erstaunlich wenig um die Einbindung insbesondere der Unionsfraktion kümmert, vielmehr erstaunlich selbstherrlich Entscheidungen trifft, die dann selbst in der Koalition auf Unverständnis stoßen.

Das dauerhaft hinzunehmen, so die Überlegung, entspreche genauso wenig dem Anspruch der Unionsparteien im Bundestag, die mit Angela Merkel die vergangenen 16 Jahre die Kanzlerin stellten.

Neuer Grundsatzkonflikt beim Thema Sondervermögen Zumal sich der Grundsatzkonflikt auch ohne Waffenlieferungs-Antrag der Unionsfraktion in der kommenden Woche ergeben könnte: Dann sollen nämlich in erster Lesung die Pläne der Koalition behandelt werden, ein Sondervermögen über 100 Milliarden Euro via Grundgesetzänderung einzurichten, um die Bundeswehr entsprechend zu ertüchtigen.

Auch dazu hatte Unionsfraktionschef Merz schon Ende Februar grundsätzliche Zustimmung signalisiert – und die ist für die Koalition elementar: Für eine Grundgesetzänderung braucht es eine Zweidrittel-Mehrheit im Parlament, die Ampel ist also auf Stimmen aus der Opposition angewiesen.

Doch weil der Kanzler und seine Leute aus Sicht der Union seitdem zu wenig unternommen haben, um CDU und CSU mit ins Boot zu bekommen, kündigte Merz zuletzt an, der Ampel nur mit genauso vielen Stimmen zu helfen, wie der Koalition bei einhelligem rot-grün-gelbem Votum zur nötigen Mehrheit fehlen. »Wenn wir überhaupt zu einer Grundgesetzänderung kommen, dann füllen wir das in der Weise auf, dass dann eine Zweidrittel-Mehrheit zustande kommt«, sagte Merz Ende März im Bundestag – sein Appell an die Ampelfraktionen lautete: »Sie werden mit jedem einzelnen Abgeordneten hier Ja sagen müssen.«

Auch das birgt für Merz allerdings Risiken. Dass Fraktionschefs ihre Abgeordneten zu einem einheitlichen Abstimmungsverhalten aufrufen, ist üblich. Aber dass ein Teil der Abgeordneten einer Vorlage zustimmen und der andere Teil dagegen stimmen oder ganz fernbleiben soll, wäre eine sehr ungewöhnliche Finte, die zudem erst recht gegen die Freiheit des Mandats verstößt. Zudem ist offen, ob die Unions-Abgeordneten ein solches Manöver wirklich mittragen würden.

Aber eins nach dem anderen: Das Projekt Kanzler-Sturz könnte ja schon vorher in Gang kommen.

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