Endlich mehr Betten: Ein Report aus der Intensivstation

Im Auge des Sturms ist es still. Wer vom Gewusel auf den Gängen ins Covid-19-Zimmer des Spitals von Sitten tritt, ist auf einmal von Ruhe umgeben: Ausser dem gleichmässigen Pfeifen der Beatmungsmaschinen ist kein Laut zu hören, alle Geräusche sind seltsam gedämpft.

Zwei Männer und eine Frau liegen bewegungslos in ihren Betten, umgeben von Schläuchen, Magensonden, Venenkathetern, Blasenkathetern und Monitoren. Sie alle wurden vor über einer Woche ins künstliche Koma versetzt. Ihre Haut ist fahl, die Glieder sind aufgedunsen von den vielen Wassereinlagerungen.

Eine Physiotherapeutin und ein Anästhesiepfleger entfernen den Schleim, der sich auf der Lunge einer intubierten Patientin abgelagert hat: Sie drückt mit gleichmässigen Bewegungen auf den Oberkörper, er saugt mit einem Schlauch die Sekrete ab. Die zwei verständigen sich ohne Worte, die Gesten der Covid-19-Pflege sind ihnen nach bald zwei Jahren Pandemiealltag in Fleisch und Blut übergegangen.

Doch der Eindruck der Ruhe täuscht. So wie ausserhalb des Auges des Sturms die Wogen hochgehen, wird rund um die Intensivstation ein Riesenaufwand betrieben, damit diese drei Patienten angemessen versorgt werden können: Vier von 13 Operationssälen am Spitalzentrum Unterwallis – bestehend aus den Standorten Sitten, Siders und Martigny – wurden Anfang Dezember geschlossen.

Damit konnten Anästhesistinnen und Pflegende freigespielt werden, die nun auf den vergrösserten Intensivstationen aushelfen. Vier Assistenzärzte müssen zum zweiten Mal in Folge auf ihre Weihnachtsferien verzichten, Dutzende von Diabetes-Patienten aus Sitten den Weg nach Siders auf sich nehmen, weil das Dialyse-Zimmer in Sitten drei zusätzlichen Intensivbetten weichen musste.

Vier geschlossene Operationssäle: Das bedeutet rund 150 nicht dringliche Operationen, die frühestens im Februar nachgeholt werden können. Treffen tut es den Rentner, der seit Wochen auf seine Hüftoperation wartet. Treffen tut es die junge Mutter mit Diskushernie, die nur noch unter Schmerzen laufen kann. Treffen tut es auch den Skifahrer, der sich letzten Sonntag auf der Piste das Bein gebrochen hat und nach Yverdon geflogen werden musste, weil es im Wallis keinen Platz für ihn gab. Voll sind dieser Tage nämlich nicht nur die Intensivstationen, sondern auch die Akutbetten.

Jedes Mal, wenn an diesem Mittwoch das Geräusch von Helikopterrotoren zu hören ist, schauen die Pflegenden mit bangem Blick nach draussen. Der Nachmittag ist schulfrei im Wallis, die Pisten sind erfahrungsgemäss voll. Bereits am frühen Morgen hat die Leiterin der Notfallstation die Spitalleitung informiert, dass Knochenbrüche womöglich erst am nächsten Tag operiert werden können. Normalerweise erfolgt so ein Eingriff innert zwei bis sechs Stunden. Doch normal ist in dieser fünften Welle nichts.

«Es ist wie Laufen im Sand»

Oft werden Spitäler dieser Tage gefragt, wie viele Intensivbetten sie aus Personalmangel nicht betreiben können. Die Frage scheint logisch, und doch zielt sie am Kern des Problems vorbei. Die richtige Frage lautet: Wo müssen Abstriche gemacht werden, damit der Ansturm der Covid-19-Patienten absorbiert werden kann? Wie das Beispiel Sitten zeigt, lassen sich immer irgendwie Ressourcen freispielen. Die Frage ist, zu welchem Preis.

Als im März 2020 der Lockdown kam, sistierte auch das Spital Wallis alle nicht dringlichen Operationen. Die erste Welle verlief glimpflich, das grösste Problem damals war die Verfügbarkeit des Schutzmaterials: Einmal reichte der Maskenvorrat gerade noch für vier Tage. In der zweiten Welle im Herbst war das Unterwallis dann einer der Hotspots der Pandemie.

Innert zwei Wochen stieg die Zahl der Patienten von 25 auf 200 an, erstmals mussten Covid-19-Kranke in andere Spitäler ausgeflogen werden. Nicht dringliche Eingriffe wurden erneut gestrichen. Bis Ende 2020 waren es 800 verpasste Operationen, die im ersten Halbjahr 2021 in Nachtschichten nachgeholt wurden, bevor im Sommer 2021 die nächste Welle in der Gestalt von ungeimpften Ferienrückkehrern anrollte.

«Ich habe schon mehrfach ans Aufhören gedacht. Doch als Kapitänin kann ich das sinkende Schiff nicht als Erste verlassen», Muriel Joris, Leiterin Intensivpflege.

Andrea Soltermann

Es ist dieser Parforcelauf, den ein Chefarzt jüngst treffend als «Duracell-Modus» bezeichnet hat: als Zustand, in dem die Batterien nie ganz aufgeladen werden können. Das Resultat sind Pflegende, die den Bettel hinschmeissen. 10 bis 15 Prozent hätten seit Beginn der Pandemie ihren Beruf aufgegeben, schätzt der Verband der Pflegefachkräfte. Auch Muriel Joris hat schon mehrfach ans Aufhören gedacht, sich dann aber jedes Mal gesagt, dass sie als Kapitänin das sinkende Schiff nicht als Erste verlassen könne.

Auch sie hat Personal verloren, konnte die Abgänge aber bisher stets mit Neuanstellungen kompensieren. In Pandemiezeiten ist das schon ein Erfolg, doch eigentlich wäre der Plan, vier zusätzliche Pflegekräfte einzustellen. Seit einem Jahr gelingt das nicht. «Es ist wie Laufen im Sand», sagt sie: «Bei jedem Schritt vorwärts rutscht man wieder ein Stück zurück.» Sie hat jetzt eine frühere Arbeitskollegin aus Libanon angeschrieben, ob sie nicht in Sitten arbeiten wolle.

Wie stark die Pandemie den Spitalbetrieb durchgeschüttelt hat, zeigen neue Zahlen, die das Bundesamt für Statistik am Montag veröffentlicht hat: Insgesamt 40 000 Covid-19-Fälle wurden 2020 im Spital behandelt. Das ist viermal mehr als die jährliche Anzahl Grippe-Patienten. Noch nie hat eine einzige Krankheit derart viele Ressourcen gebunden: Covid-19-Patienten brauchen nicht nur zweieinhalbmal häufiger Intensivpflege als Hospitalisierte ohne diese Diagnose.

Sie liegen im Schnitt auch dreimal länger auf der Intensivstation, und ihre Pflege ist mit durchschnittlich 22 000 Franken mehr als 10 000 Franken teurer als ein Spitalaufenthalt ohne diese Krankheit. Wird ein Covid-19-Patient intubiert, belaufen sich die Kosten gar auf 108 000 Franken. Kein Wunder, musste der Kanton Wallis einen Notkredit von rund 30 Millionen Franken sprechen, um das Defizit seines Spitals zu decken. Schweizweit belief sich das Defizit aller Spitäler auf über 800 Millionen Franken.

Was macht die Pandemie mit dem «besten Gesundheitssystem der Welt»? Gibt es ein Zurück in den Vor-Corona-Zustand, oder sind volle Intensivstationen, Übersterblichkeit und Defizite der neue Normalzustand? Immerhin prophezeit der Berner Epidemiologe Christian Althaus in der NZZ, es würden künftig jeden Winter 50 bis 200 Covid-19-Patienten in den Spitälern liegen – eine Grössenordnung, die das Berner Inselspital für realistisch hält. Wenn dies das neue Normal ist, was bedeutet das für das Spital von morgen?

, Eric Bonvin, Direktor Spital Wallis.

Andrea Soltermann

Eric Bonvin sitzt in seinem Büro in einem Nebengebäude des Spitals Sitten. Er ist nach bald zwei Jahren «Duracell-Modus» überzeugt, dass das heutige System an einem Wendepunkt steht: «Um kosteneffizient zu wirtschaften, musste ein Spital möglichst wenige freie Betten und möglichst kleine Lagerbestände mit Medikamenten und Schutzmaterial halten», sagt er.

Mit so einem Modell könne man saisonale Schwankungen der Belegung von 10 bis 20 Prozent absorbieren. Covid-19 aber habe zu Schwankungen von bis zu 40 Prozent geführt. «Die Pandemie hat die den Spitälern aufgezwungene Planungsideologie komplett auf den Kopf gestellt», sagt Bonvin.

Improvisieren geht eine Zeitlang gut, doch irgendwann werden die Kollateralschäden zu gross. «Längerfristig muss sich die Gesellschaft fragen, wie viel sie zu investieren bereit ist, um solche Pandemierisiken abzusichern.» Schliesslich ist es nicht nur der Fachkräftemangel, der die Spitäler davon abhält, Intensivpflegekapazitäten aufzubauen.

Es sind auch die Kosten: Ein Intensivbett kostet über eine Million Franken im Jahr. Und ist die Welle vorbei, steht es erst einmal leer, bis eventuell der nächste Ansturm folgt. Wer soll so ein unrentables Bett bezahlen?

Jetzt kommt der Bettenaufbau

Eine erste Antwort hat diese Woche das nationale Parlament gegeben: Es hat die Kantone verpflichtet, den Ausbau der Spitalbetten vorzufinanzieren. So steht es neu im Covid-19-Gesetz. In einem nächsten Schritt werden nun Bund und Kantone festlegen, wie viel Personal die Spitäler im Hinblick auf die nächste Welle bereitstellen – und bis dahin weiterbeschäftigen – müssen.

Einer der Väter des neuen Artikels ist SP-Gesundheitspolitiker Pierre-Yves Maillard. Er ist überzeugt, dass nur so ein Ausweg aus der Krise gefunden werden kann: «Entweder wir diskutieren jeden Winter darüber, Hunderttausende Arbeitnehmende in die erzwungene Kurzarbeit und eine Million Kinder in vorgezogene Weihnachtsferien zu schicken, oder wir geben den Spitälern die Mittel in die Hand, um ihre Intensivpflegekapazitäten auszubauen.»

Bis jetzt ist dieses System mit Vorhalteleistungen nur für die Covid-19-Krise gedacht. Doch bereits fordern erste Stimmen, den Grundsatz ins Epidemiengesetz zu übernehmen: «Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die nächste Pandemie kommt», sagt Mitte-Gesundheitspolitikerin Ruth Humbel. Sie vergleich die Vorhalteleistungen mit den geschützten Operationsstellen, die während des Kalten Kriegs für den Ernstfall errichtet wurden. «Wieso nicht wieder auf so eine Lösung zurückgreifen?»

Nach Jahren der Pandemie folgt nun ein Umdenken: Jetzt kommt es zum Bettenaufbau. Das Inselspital etwa stellt Mittel zur Verfügung, um die Kapazitäten seiner Intensivstation aus

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