Syrischer Flüchtling stirbt angeblich vor LaGeSo

Für alle die kein Facebook nutzen:

So. Jetzt ist es geschehen. Soeben ist ein 24-jähriger Syrer, der tagelang am Lageso bei Minusgraden im Schneematsch angestanden hat, nach Fieber, Schüttelfrost, dann Herzstillstand im Krankenwagen, dann in der Notaufnahme - VERSTORBEN. Wer übernimmt hier Verantwortung? Wer stellt sich der Schuld, die die versagende Verwaltung oder der politische Wille – wer weiß noch, was hier vor sich geht? – jetzt auf sich geladen haben? Wie wollt Ihr damit jetzt umgehen? Weiter verschieben, vertuschen, schönreden? Reagieren? Egal, was Ihr tut: Dieses Opfer eines Menschenlebens hätte verhindert werden müssen. Wir haben es alle kommen sehen. Und nicht seit zwei Tagen. Seit einem halben Jahr. Jetzt ist es zu spät. Er ist tot. Seit einem halben Jahr sehen wir Anwohner, was geschieht. Seit einem halben Jahr helfen wir, rennen, pflegen, ernähren, versorgen, heilen… und sagen immer wieder, es wird Tote geben, wenn das so weiter geht. Und es wird heruntergespielt, beschönigt, weggeredet. Es wird so getan, als sei das alles normal, nur eine kleinere Verwaltungskrise, bald haben wir alles im Griff, wir verbessern hier ein bisschen und schrauben da ein wenig, das wird schon. Mindestens vier Fehlgeburten haben nicht gereicht – sind das keine Toten? – ein ermordetes Kind, das aus dem Chaos entführt werden konnte, hat nicht gereicht – ist das kein Toter? - mehrere Wiederbelebungen auf dem Gelände, Herzinfarkte, Diabetes-Schocks, allnächtliche Rettungswagen-Einsätze für kollabierte Personen und so weiter und so weiter haben nicht gereicht, um klarzumachen: Das hier ist keine ideologische Diskussion. Wir melden Bedarf an, nicht aus Prinzip oder Lustigkeit. Es geht hier um Menschen mit Augen, Ohren, Kälteempfinden… um Kinder. Um Alte. Und kein Vertun: Die Situation am Lageso ist weiterhin lebensbedrohlich. Während ich diese Zeilen schreibe, geht es zwei Straßen entfernt munter so weiter. Der Junge, der jetzt gestorben ist, war 24. Einer der „jungen, gesunden Männer“, die ja alles abkönnen, um die sich keiner kümmern muss, und die in erster Linie misstrauisch beäugt werden – was wollen die hier? Wieso sind die nicht im Bombengebiet geblieben? Wieso versuchen sie, aus der Ferne die Situation ihrer Familie zu verbessern, wenn sie es doch in der Nähe, im Krieg …GARNICHT können? Und Nein, an die Hasser, in Syriens Bürgerkrieg ist „sollen sie doch eine Waffe in die Hand nehmen und IHR LAND verteidigen“ keine Option, informiert Euch mal, wer da so alles mit welchen überdimensionierten Mitteln bombardiert und gut ausgestattet unterwegs ist – und dass „eine Waffe in die Hand nehmen“ im Zweifelsfall immer gegen die eigenen Landsleute geht. Der eine Ex-Soldat Assads, ja, Deserteur, den ich am Lageso kennenlernen durfte war geflohen, weil er die Greueltaten „seiner“ Armee nicht mehr mitanschauen konnte. Weil seine „Hört auf, lasst sie in Ruhe“ – Rufe nichts nützten. Ins Gespräch kamen wir, weil er mich um eine Decke bat. Damit er mit Fieber die Nacht nicht draußen verbringen musste – Decke hin oder her! – brachten wir ihn privat unter. Der Junge, der jetzt gestorben ist, hat es bis hierher geschafft, und wir – unser Staat, unsere Gesellschaft, unser Land! – haben ihn weniger als geschützt. Wochenlang war ich nachts am Lageso. Privatpersonen haben mittlerweile tausende Menschen notbehelfsmässig untergebracht, die wir von dort aus vermittelt haben - darunter so viele Kinder. Dabei bin ich drei Mal so krank geworden von der Kälte und Nässe, dass ich es schließlich aufgeben und meine Hilfe auf tagsüber verlegen musste. Wochenlange Erkältungen und Arbeit mit Sängern von Weltklasse vertragen sich nicht derart gut. Ich hatte die Wahl. Jedes Mal, wenn ich von dort wegging, ging ich mit dem Schauder des Bewusstseins, ein absolutes Privileg im Vergleich zu Hunderten zu haben – weggehen zu können. Ich hatte keine Ahnung, wie die Menschen die Kälte überhaupt aushielten – aushalten! In den dünnen Kleidern, die ich direkt vor mir sah, fragte ich mich aus meiner frierenden Vermummeltheit mit fünf Kleiderschichten: Wie halten sie das aus? Ganz einfach. Abwesenheit von Wahl. Während ich das schreibe, ist die Situation zwei Straßen weiter diesselbe – solange nicht eine Jacke, nicht eine Mütze, nicht ein Schlafsack vom Senat bezahlt wurden, muss man es so beschreiben. Auch wenn die unglaublich starken Helfer, die dort Jacken, Mützen, Schals, heiße Getränke und Suppe verteilen Abhilfe schaffen und sich investieren in einem Maße, das sich keiner vorstellen kann, der nicht mitgemacht oder es nicht wenigstens mit eigenen Augen gesehen hat. Dass sie ganz konkret und tatsächlich Leben retten, dürfte spätestens jetzt klar sein. Letzten Freitag, wo ich lediglich für einen Syrer den Einstellungsbescheid abholen wollte und mit vier anderen besprechen, was jetzt die nächsten Schritte sind, habe ich das erste Mal auf dem Heimweg geweint. Bis dahin war das Vertrauen, dass diese Stadt, dieses Land doch irgendwann den humanitären Knall hören muss, immer noch nicht ganz gebrochen – dass es eben dauert, dass wir aber die funktionierenden Verhältnisse, die wir gewohnt sind, doch irgendwann wieder erleben werden, auch im Lageso-Kontext. Aber diesmal war es nicht nur einfach zu kalt. Es waren nicht nur die vielen, vielen Menschen, die in der Kälte standen, die weinenden Kinder, Menschen jeden Alters, die verzweifelt warteten – es war das Gefühl, dass sich etwas geändert hat auf dem Platz. Dass etwas weggefallen ist: Das Gefühl der vorübergehenden Ausnahmesituation… das war weg. Präsent war stattdessen ein neues: dass sämtliche Alarmstufen sowohl in den Medien als auch von diversen, doch bedeutenden Politikern schon durchlaufen sind, dass schon lang genug laut genug geschrien wurde, und dass eine neue Stufe erreicht ist – eine Stufe der Verzweiflung, in der schon alles gesagt ist und die Situation in ihrer ganzen Dimension eine Art von Normalität erreicht hat. Dass die Flimmerhärchen in sämtlichen Gehörgängen so überreizt und überbrüllt sind von dem Thema, weil sich die zu den Ohren gehörenden Körper nicht in Bewegung gesetzt haben, dass sie sich auch nicht mehr in Bewegung setzen werden und also kein Schrei mehr nützt. Ich kenne zu viele, die aufgeben, die sich nicht mehr hintrauen. Die schon Tage vor ihrem berühmten „Termin“ Panikattacken haben, Bauchkrämpfe… ja man staunt, das sind Menschen!!! Die haben ANGST vor dem Lageso. Ein Junge postet ein Foto auf Facebook, wo ein Schmetterling an einen Stein gebunden versucht zu fliegen und den Stein zu ziehen, um sich am Tag vorher Mut und Zuspruch zu holen. Ich habe auch Angst, wenn ich für jemanden hingehe. Die Knie zittern hunderte Meter vorher. Gottseidank, gottseidank gibt es furchtlose Helfer, Helfer, die nicht krank werden, Helfer, die ihren Beruf temporär auf Eis legen, die seit Monaten durchhalten und bleiben und weitermachen und tagelang und stundenlang dort sind und helfen helfen helfen!!! Ihr rettet Menschenleben. Dirk Voltz, der den Jungen aufnahm, war selbst bis vor wenigen Tagen länger im Krankenhaus – Erschöpfungszustand. Er hat den Krankenwagen gerufen, ist mirgefahren – jetzt ist er zuhause und muss mit dem Geschehenen irgendwie klarkommen. Wird dieser Staat Verantwortung übernehmen? Wird der Helfer, der den Jungen zu retten versuchte, und das Notaufnahme – Team eines Berliner Krankenhauses jetzt auch mit dieser Last allein gelassen? Bitte lest selbst…

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